Eröffnungsrede des Präsidenten des Europäischen Parlaments bei der Parlamentarischen Konferenz über Politikkohärenz im Interesse der Entwicklung und Migration
vom 12.02.2009
Herr Vorsitzender des Entwicklungsausschusses, lieber Josep Borrell,
Frau Kommissarin, liebe Margot Wallström,
Herr Stellvertretender Generalsekretär der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, sehr geehrter Herr Mario Amano,
Liebe Kolleginnen und Kollegen aus den nationalen Parlamenten und dem Europäischen Parlament,
Exzellenzen,
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
Verehrte Gäste,
Es ist mir eine große Freude, Sie alle anlässlich dieser wichtigen Parlamentarischen Konferenz im Europäischen Parlament willkommen heißen zu dürfen.
Die heutige Konferenz hat zum Ziel Wege für eine Politikkohärenz im Interesse der Entwicklung und Migration zu schaffen und Bewusstsein über die große wirtschaftliche und soziale Bedeutung der Migrationpolitiken für die Zukunft sowohl der Industrieländer als auch der Entwicklungsländer zu stärken.
Umso mehr freue ich mich, Vertreter der nationalen Parlamente so zahlreich bei dieser Konferenz begrüßen zu können. Als Präsident des Europäischen Parlaments möchte ich die Bedeutung einer engen Zusammenarbeit zwischen dem Europäischen Parlament und nationalen Parlamenten weltweit in Fragen von globaler Bedeutung besonders betonen.
Als Parlamentarier tragen wir besondere Verantwortung für die Menschen in unseren Ländern sowie für eine auf Vertrauen und konstruktiver Zusammenarbeit beruhende friedliche Zukunft.
Es ist unsere Verantwortung, gemeinsam zu handeln und dazu beizutragen, Synergien zwischen Migration und Entwicklung zu schaffen sowie eine entscheidende Rolle bei der Bewältigung der Vorteile und Herausforderungen von Migration für die Entwicklung zu spielen.
Parlamentarier können ihren Einfluss auf Regierungen auf hilfreiche Weise geltend machen, um die Auswirkungen der politischen Maßnahmen der Europäischen Union und der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in Bezug auf Entwicklung und Migration zu analysieren und dabei auch sicherzustellen, dass diese kohärent sind und die Regierungen ihren Verpflichtungen nachkommen.
Parlamentarier können Regierungen dazu bewegen, schlüssige nationale Standpunkte zu formulieren und auf internationalen Foren entsprechend mit einer Stimme zu sprechen.
Parlamentarier können Bewusstsein stärken und Einfluss auf ihre Wähler haben. Es ist daher wichtig, dass sie Zugang zu Fakten, Analysen und Erfahrungen über die Auswirkungen der Migrationspolitik auf die Entwicklung in den Migranten-Herkunftsländern haben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
Wie wir alle wissen, stellt die Migration eine der bedeutendsten globalen gesellschaftspolitischen Herausforderungen unserer Zeit dar. Menschen in allen Teilen der Welt sind aus vielerlei Gründen in Bewegung, etwa wegen wachsender wirtschaftlicher Ungleichheiten, extremer Armut, des Wiedererwachens von ethnischen, religiösen und Stammesfundamentalismen, oder wegen Konflikten und Kriegen.
Deshalb entwickelt sich Migration heute überall zu einem beherrschenden Thema auf der politischen und gesellschaftlichen Agenda. Und zweifelsohne ist jeder politischer Ansatz zur Strukturierung und Steuerung von Migration wesentlich mit der Entwicklungspolitik verbunden: Migration hat Einfluss auf Entwicklung und Entwicklung Einfluss auf Migration!
Im Bewusstsein der wesentlichen Ursachen und negativen Folgen von Migration wurde jedoch heute auch der mögliche positive Beitrag der Migration auf die Entwicklung erkannt. Bei entsprechender Steuerung kann Migration zum Rückgang der Armut und zu wirtschaftlichem Wachstum in den sich in Entwicklung befindenden Herkunftsländern beitragen.
Diese Länder könnten von einer Spannungsentlastung auf ihre Arbeitsmärkte, Geldüberweisungen von Migranten und einer Rückkehr von Fachkräften mit neu erworbenen Fähigkeiten und Wissen in ihre Heimatländer profitieren. Darüber hinaus können Diaspora-Organisationen die Handelsbeziehungen und die Zusammenarbeit zwischen den Gesellschaften der Herkunfts- und Aufnahmeländer stärken.
Doch bei schlechter Steuerung kann sich Migration jedoch auch in Nachteilen für die Entwicklungsländer niederschlagen, wenn beispielsweise diese nicht von einer vorübergehenden oder permanenten Rückführung von Kenntnissen und Wissen profitieren. Eine der offensichtlichsten negativen Folgen der Migration ist die Abwanderung von Wissen und Fähigkeiten („brain drain“).
Derzeit arbeiten mehr als 55 Prozent der nigerianischen, 49 Prozent der sambischen sowie 40 Prozent der Staatsbürger von Benin, Tschad, Simbabwe, Kamerun, Lesotho, Namibia, Tansania und Südafrika als hochqualifizierte Fachkräfte außerhalb ihrer Heimatländer. Manche karibische Staaten haben über 70 Prozent ihrer hochqualifizierten Arbeitskräfte mit mehr als zwölf absolvierten Schuljahren verloren.
Am deutlichsten ist die Abwanderung von Fachkräften im Gesundheitswesen spürbar. 60 Prozent aller in Ghana ausgebildeten Ärzte arbeiten in Kanada, Großbritannien und den Vereinigten Staaten und weniger als 10 Prozent aller in ihrem Heimatland ausgebildeten sambischen Ärzte praktizieren heute noch dort.
Nach Schätzungen der Vereinten Nationen wird Afrika im kommenden Jahrzehnt eine weitere Million an Fachkräften im Gesundheitswesen heranbilden müssen.
Diese Herausforderung des Abflusses von Wissen hat katastrophale Auswirkungen auf die wirtschaftliche und soziale Entwicklung in diesen Ländern und belastet insbesondere die Fähigkeit der Entwicklungsländer, die Milleniums-Entwicklungsziele in Bereichen wie Bildung und Gesundheitswesen zu erreichen.
Meine Damen und Herren,
Unsere große Herausforderung besteht demzufolge darin, sicherzustellen, dass Migration sowohl zur Entwicklung in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und der OECD als auch in den Entwicklungsländern selbst beiträgt. Der Bedarf der Industriestaaten nach Arbeitnehmermigration muss also mit der notwendigen Armutsbekämpfung in den Entwicklungsländern abgestimmt werden. Wir müssen Wege aufzeigen, die es ermöglichen diese doppelte Möglichkeit zu nutzen.
Um dies zu erreichen, müssen zuallererst die Staaten der Europäischen Union und der OECD ihre Migrations- und Entwicklungspolitik besser koordinieren. In diesem Sinne hat die Europäische Union in ihrem „Europäischen Konsens über die Entwicklungspolitik“ vom Dezember 2005 ihr „Bekenntnis zur Förderung einer kohärenten Politik im Interesse der Entwicklung“ bekräftig.
Sie wird sich dafür einsetzen, „dass die europäischen Ziele der Entwicklungs-zusammenarbeit in alle Politikfelder, die die Entwicklungsländer berühren können, hineinfließen und dass diese europäischen Politiken auch die Entwicklungsziele fördern“. Und Migration ist dabei eines der zwölf Politikfelder, in denen die Politikkohärenz im Interesse der Entwicklung gefördert werden sollte.
Politikkohärenz im Interesse der Entwicklung im Bereich der Migration zu schaffen, setzt voraus:
- die nationalen Entwicklungs- und Migrationspolitiken gegenseitig abzustimmen;
- die Zusammenarbeit zwischen Herkunfts- und Aufnahmeländern zu fördern;
- nationale Migrationspolitiken und –programme einzurichten, die mit internationalen Entwicklungsstrategien, -standards und -zielen (wie jene in der Milleniumserklärung der Vereinten Nationen) übereinstimmen.
Daher muss diese Kohärenz auf verschiedenen Ebenen und unter Einbeziehung verschiedener Interessengruppen angegangen werden.
Abschließend möchte ich betonen, dass Migration sowohl eine gemeinsame Herausforderung als auch eine große Chance für alle darstellt - für die Entwicklungsländer sowie auch für die Staaten der Europäischen Union und der OECD. Geeignete Lösungen können und müssen am besten durch Zusammenarbeit erreicht werden.
Zu diesem Zweck sollte der Dialog zwischen Herkunfts- und Aufnahmeländern über Politikkohärenz im Interesse der Entwicklung und Migration weiter verstärkt werden.
Die heutige hochrangige Parlamentarische Konferenz, für die wir hier im Europäischen Parlament zusammen kommen, ist ein weiterer Schritt in diesem Dialog über Entwicklung und Migration zwischen Industrie- und Entwicklungsländern.
Ich hoffe, dass diese Konferenz uns dabei helfen wird, ein besseres Verständnis und ein höheres Bewusstsein für Politikkohärenz im Interesse der Entwicklung im Bereich der Migration zu schaffen.
Ihnen allen wünsche ich am heutigen Konferenztag ergebnisreiche Diskussionen.
Vielen Dank!