Türken in der Bundesrepublik Deutschland |
Türken in Deutschland: Leben zwischen Tradition und Integration
Der lange Weg zur neuen Heimat
Dies ist die Geschichte eines türkischen Vaters und seiner Tochter. Ilhami und Cigdem haben ihre Wege zwischen Tradition und Freiheit gefunden. Sie haben unterwegs gestritten, aber sie sind gemeinsam angekommen. In Deutschland.
An dem kleinen Tisch im Garten des Einfamilienhauses sitzt Ilhami Demirci. Einige graue Haare durchziehen seinen schwarzen Schnauzbart. Sie zeugen von seinem Alter. Er ist 55 Jahre. Vielleicht zeugen sie auch von den Kämpfen, die er mit sich ausgefochten hat. Ilhami Demirci ist Türke. Und er ist Vater. Er hat einen Sohn und eine Tochter. Seine Tochter Cigdem ist die ältere, sie ist 33. Sie sitzt ihm gegenüber. Modern gekleidet, lange, offene schwarze Haare, eine schicke Sonnenbrille auf der Nase. Sie ist eine selbstbewusste Frau. Das musste sie sich schwer erstreiten, auch gegen ihren Vater. Er hat ihr vieles nicht erlaubt. Es gab Situationen zwischen Vater und Tochter, die in der Integrationsdebatte von Deutschen gern mit einem Kopfschütteln und einem Satz bewertet werden: „Wer hier lebt, der muss sich auch integrieren und an unsere Kultur anpassen.“ So einfach ist das. Oder eben nicht.
„Ein Mensch kann nicht alles in dem Ort lassen, aus dem er kommt, und als völlig neuer Mensch an einem anderen Ort ankommen.“
(Vater Ilhami Demirci)
Vier bis acht Jahre will Demirci bleiben, als er 1977 als Lehrer für türkischen Kultur- und Sprachunterricht nach Lübeck kommt. Er ist neugierig auf dieses Land und seine Menschen. Aber sie nicht auf ihn. Er lebt in Deutschland, aber nicht mit den Deutschen. Er kennt sie nicht, und sie mögen ihn nicht, denkt er. Er will ihre Sprache sprechen und an der Volkshochschule einen Deutschkurs machen. „Der Leiter hat mir zwei Stunden in der Woche angeboten, mehr nicht“, erinnert er sich. Doch in zwei Stunden in der Woche lässt sich die deutsche Sprache nicht lernen. Und so bleiben er und die anderen Türken unter sich. Sie halten noch enger zusammen. Sie bewahren das, was sie aus ihrer ländlichen Heimat mitgebracht haben. Ihre Kultur und Tradition.
„Am Anfang konnte ich die deutsche Sprache nicht, es war die schlimmste Zeit meines Lebens.“ (Tochter Cigdem Sen)
Der kleinen Cigdem ergeht es nicht besser, als ihr Vater sie und den Rest der Familie ein Jahr später nach Deutschland holt. Eher schlechter. Sie kommt gleich in die zweite Klasse. Obwohl sie kein Wort deutsch spricht. „Keiner wollte mit mir befreundet sein“, sagt sie. Auch keiner der Türken in der Klasse. Die Lehrerin setzt Cigdem neben ein türkisches Mädchen, sie soll ihr helfen und übersetzen. Aber das Mädchen spricht deutsch. Sie tuschelt deutsch mit den anderen Mädchen. Reden sie über die Neue? Nach ein paar Wochen hält Cigdem es nicht mehr aus und geht auf das andere Mädchen los. Sie verprügelt es. Sie verprügelt alle, die sie nicht versteht. „Ich wollte Freunde haben“ , sagt sie. Dann beginnt sie zu kämpfen, aber nicht mit den Fäusten. In wenigen Jahren lernt sie die deutsche Sprache, kommt auf die Realschule und findet die Freunde, die sie gesucht hat. Es sind deutsche Freunde. Und Cigdem sieht, welche Freiheiten sie genießen.
„Bei uns haben Mädchen und Jungen nur unter Aufsicht der Eltern bei Hochzeiten miteinander getanzt. Küssen war tabu.“
(Vater Ilhami Demirci)
Ihr Vater kennt nur einen Deutschen. Es ist der Hausmeister der Schule, an der er arbeitet. Der lädt die Familie zu einem Fest ein. Sie unterhalten sich, es wird Musik gespielt. Dann tanzen alle. Irgendwann steht der Hausmeister da und fragt Demircis Frau, ob sie mit ihm tanzen wolle. Herr Demirci verbietet es. „Das geht nicht“, sagt er. Ilhami Demirci ist noch nicht angekommen in der deutschen Kultur. Alles ist anders. Irritierend. Junge Pärchen küssen sich einfach so auf der Straße. „Was für eine Schande“, denkt Herr Demirci. Dabei sind es vor allem die türkischen Traditionen, die oft nicht mit dem deutschen Alltag zusammen passen. Die islamische Religion spielt nicht die entscheidende Rolle. Früher als junger Mann war Demirci sehr gläubig, aber schon in der Türkei hatte er angefangen, auch kritisch über den Glauben nachzudenken. Als seine Frau eineinhalb Jahre in Deustchland ist, sagt er zu ihr: „Das Kopftuch brauchst du nicht zu tragen, das kannst du wegschmeißen.“
„Ich musste meine Eltern verletzen, denn ich musste um meine Freiheit und Rechte kämpfen.“
(Tochter Cigdem Sen)
Cigdem ist glücklich. Ihr Vater fährt sie zur Kinderdisko in der Tanzschule, und sie darf sogar bei einer deutschen Freundin übernachten. Doch dann wird Cigdem 16, eine junge Frau und sie hat jetzt auch türkische Freundinnen. „Und da merkte ich, die dürfen nicht ausgehen oder bei Freundinnen übernachten“, erzählt sie. Und auch ihr Vater wird strenger. „Ich habe das nicht verstanden“, sagt sie. Nicht nur ihr Vater, alle türkischen Jungen fangen plötzlich an, sie zu überwachen, wollen ihr die gerade gewonnene Freiheit wieder nehmen. „Ich habe gar nicht erst versucht, mit meinen Eltern zu diskutieren, bin einfach heimlich mit den anderen türkischen Mädchen zusammen in die Diskos gegangen.“ Immer wieder wird sie von Jugendlichen erwischt, die ihren Vater kennen und es sich zur Aufgabe gemacht haben, für sie den großen Bruder zu spielen. Sie bringen sie nach Hause. Oder erzählen es ihren Eltern. Aber für Cigdem gibt es jetzt kein Zurück mehr. Sie geht wieder und wieder heimlich weg. In Diskos oder Cafés.
„Ich war verpflichtet, meine Tochter zu schützen.“
(Vater Ilhami Demirci)
Seine Tochter ist jetzt kein Kind mehr. Die Jungen interessieren sich für sie. Vater Demirci muss aufpassen, Cigdem soll schließlich glücklich werden, irgendwann einen Türken heiraten. Doch das geht nur, wenn sie einen guten Ruf hat und sich nicht zum Sex überreden lässt. Sie muss unberührt bleiben.
In seinem Kopf tobt ein Kampf. Seine Gedanken haben sich an die Freiheiten gewöhnt. „Deswegen habe ich mich überhaupt erst entschieden, hier zu bleiben“, sagt er. Und eigentlich möchte er diese Freiheiten auch seiner Tochter nicht nehmen. Er möchte ihr vertrauen. Aber Geborgenheit und Zusammenhalt finden die Demircis immer noch nur in der türkischen Gemeinde. Und die ist in großen Teilen traditioneller als Demirci und sogar als die Türken in der Türkei. Und sie übt Druck aus. Einem Druck, dem Vater Demirci damals nicht gewachsen ist.
Demirci sitzt im Wohnzimmer, als das Telefon klingelt. „Deine Tochter sitzt mit Jungen im Café Amadeus in der Stadt“, sagt der anonyme Anrufer. Demirci wartet ab. Aber es klingelt weiter. Drei Anrufe bekommt er. Er weiß, was nun von ihm erwartet wird. Er fährt in die Stadt und stürmt in das Café. „Aufstehen“, sagt er und befiehlt seiner Tochter und den anderen türkischen Mädchen, ins Auto zu steigen. „Ich werde euch euren Vätern übergeben“, schimpft er.
Später ärgert er sich über sich selbst. „Ich wusste, dass sie nichts Schlimmes getan haben. Sie haben nur Cola getrunken und mit Freunden geredet.“ Aber er konnte nicht klar denken, er ist auf die Unterstützung seiner Landsleute angewiesen und musste tun, was sie erwarten. „Wenn mich die türkische Gesellschaft ausgeschlossen hätte, hätte ich gelebt wie Robinson Crusoe. Allein“, sagt Demirci.
„Der Mensch ist ein soziales Wesen, Veränderungen dauern ziemlich lange.“
(Vater Ilhami Demirci)
Niemand gewinnt den Kampf, den Vater und Tochter ausfechten. Niemand wird besiegt. Vater Demirci kommt seiner Tochter einfach ganz langsam näher. Und irgendwann stehen sie auf derselben Seite. „Ich lebe seit 28 Jahren hier, man merkt die soziale Veränderung gar nicht, sie kommt schleichend. Man übernimmt immer mehr Verhaltensweisen, oder man akzeptiert sie zumindest“, sagt er.
Heute sitzen Vater und Tochter zusammen an dem kleinen Gartentisch. Vater Demirci sagt, dass es ihm heute egal wäre, ob seine Tochter einen Deutschen oder Türken heiraten würde, wenn sie nur glücklich wäre. Und dass seine Frau tanzen kann, mit wem sie mag. Und die frühere Rebellin Cigdem spricht über den Respekt gegenüber den Älteren, den Zusammenhalt in der türkischen Gemeinschaft und die Traditionen, die ihr wichtig sind. Sie ist glücklich mit einem Türken verheiratet.
„Integration bedeutet, dass Deutsche und Türken miteinander leben und voneinander lernen.“
(Tochter Cigdem Sen)
Herr Demirci hat deutsche Werte übernommen. Wenn er sie für richtig gehalten hat. Und mittlerweile ist er auch selber in die deutsche Gesellschaft integriert. In seinem neuen Job in einem Jugendzentrum hat er deutsche Freunde gefunden. Und nicht nur da. Es klingelt an der Tür. Seine Tochter steht auf. Als sie zurückkommt, hat sie einen Blumenstrauß dabei. Das deutsche Ehepaar von nebenan hat ihn gebracht. Es ist ein Dankeschön. Für die gute Nachbarschaft.
Wie viele Türken leben hier?
In Deutschland leben 1, 8 Millionen türkische Staatsangehörige (die nächst größere Gruppe sind die Italiener mit 600 000 Menschen). Sie stellen damit über ein Viertel (26 Prozent) der ausländischen Bevölkerung. Insgesamt leben 6,7 Millionen Ausländer in Deutschland. 1960 lebten 2700 Türken in Deutschland, 1980 waren es schon 1,5 Millionen. 1998 waren es sogar 2,1 Millionen. In Schleswig-Holstein leben etwa 38 000 Türken. Hinzu kommen die deutschen Staatsangehörigen türkischer Abstammung. Ihre Zahl liegt bei bundesweit über 700 000.
Wie viele heiraten Deutsche?
Ein Indiz für die Integration sind die Zahl der Eheschließungen. Im Jahr 2003 gab es 7414 Hochzeiten zwischen Deutschen und Türken. Meist heiratete ein türkischer Mann eine deutsche Frau (5564). Insgesamt steigt die Zahl der Mischehen, denn obwohl 1998 die meisten Türken in Deutschland lebten (2,1 Millionen), gab es damals nur 5353 Ehen zwischen Türken und Deutschen.
Haben sie deutsche Freunde?
73 Prozent der Türken haben häufig Kontakt mit deutschen Freunden oder Bekannten. 27 Prozent selten oder nie. Aber es gibt Unterschiede zwischen den Generationen. Bei den 14- bis 18-Jährigen treffen sich über 90 Prozent häufig mit Deutschen, 82 Prozent sogar täglich oder mehrmals in der Woche. Von den über 50-jährigen Türken hat aber die Hälfte nur einmal im Monat oder gar keinen Kontakt zu Deutschen. Unabhängig von der Kontakthäufigkeit gaben bei einer Berliner Umfrage 81 Prozent der Türken an, dass sie deutsche Freunde haben.
Wie geht es ihnen wirtschaftlich?
Es gibt 660 000 Haushalte mit türkischstämmigen Bewohnern. 135 000 davon haben ein eigenes Haus oder eine Eigentumswohnung. Das sind 20,45 Prozent aller türkischen Haushalte. Das durchschnittliche Haushaltsnettoeinkommen liegt im Monat bei 2020 Euro, davon werden 1661 Euro für Konsum und Lebensunterhalt ausgegeben. Zum Vergleich: Die Eigentumsquote lag im gleichen Zeitraum für Gesamtdeutschland bei 42,3 Prozent, das Nettoeinkommen in Deutschland bei durchschnittlich 2770 Euro.
Haben sie Arbeit und wo?
Die Arbeitslosenquote ist bei Türken mehr als doppelt so hoch wie die Gesamtarbeitslosenquote in Deutschland. Nach letzten Erhebungen sind rund 22,7 Prozent der Türken arbeitslos. Für die Stellung im Beruf gibt es nur Angaben für alle Ausländer. Demnach arbeiten neun Prozent der Ausländer als Selbstständige, ein Prozent als mithelfende Familienangehörige, 35,2 als Angestellte und fast 55 Prozent als Arbeiter. Die Zahl der Arbeiter ist hoch, zum gleichen Zeitpunkt lag die Arbeiterquote insgesamt in Deutschland bei rund 25 Prozent.
Welche Bildung haben sie?
Rund 12 Prozent aller Türken haben keinen Schulabschluss, 46 Prozent einen Hauptschulabschluss, 25 Prozent die mittlere Reife und nur etwa 19 Prozent das Abitur oder die Fachhochschulreife. Dabei wünschen sich über die Hälfte der Eltern, dass ihre Kinder Abitur machen. Und auch die Jugendlichen selber wollen zu 90 Prozent die Mittlere Reife oder das Abitur erreichen. Rund 19 000 in Deutschland aufgewachsene Türken studieren an einer deutschen Uni, hinzu kommen rund 5000 Studenten, die aus der Türkei gekommen sind.
Sprechen sie deutsch?
37 Prozent der Türken sprechen im Alltag vor allem türkisch. 25 Prozent sprechen deutsch. Bei 38 Prozent ist das ausgeglichen. Vor allem die jüngere Generation unterhält sich aber in deutscher Sprache. Von den 14- bis 18-Jährigen sprechen 39 Prozent vor allem deutsch. Oft gut – bei einer Umfrage wurden die Deutschkenntnisse der befragten Türken bei 52 Prozent als gut, bei 25 Prozent als mittel und nur bei 23 Prozent als schlecht bewertet. Auch der Wille ist da, in Berlin sprachen sich 95 Prozent der Türken für Sprach- und Integrationskurse aus. 37 Prozent der Türken sprechen im Alltag vor allem türkisch. 25 Prozent sprechen deutsch. Bei 38 Prozent ist das ausgeglichen. Vor allem die jüngere Generation unterhält sich aber in deutscher Sprache. Von den 14- bis 18-Jährigen sprechen 39 Prozent vor allem deutsch. Oft gut – bei einer Umfrage wurden die Deutschkenntnisse der befragten Türken bei 52 Prozent als gut, bei 25 Prozent als mittel und nur bei 23 Prozent als schlecht bewertet. Auch der Wille ist da, in Berlin sprachen sich 95 Prozent der Türken für Sprach- und Integrationskurse aus.